Jürgen Kohler ist selbst Welt- und Europameister. Daher kennt der 52-Jährige die Tücken der Titelverteidigung. Im Interview macht er Mut.
„Wenn wir die Hosen nicht verlieren, werden wir Weltmeister“
Interviewer: Herr Kohler, viele deutschen Fans bekommen Angst vor dem nächsten Gruppenspiel. Sie auch?
Kohler: Ist das ein Witz? Ich sagte immer: Deutschland ist klarer Titelfavorit, auch die verdiente Niederlage im Auftakt gegen Mexiko ändert nichts daran. Bei allem Respekt, die Schweden sind lediglich durch die Trostrunde in die WM gekommen. Sie haben im Play-off gegen Italien gewonnen, klar. Aber wir spielen besser als Schweden und Italien. Daher gehe ich von einem Sieg gegen Schweden und gegen Südkorea aus.
Interviewer: Waren sie nach der schwachen Leistung gegen Mexiko überrascht?
Kohler: Sie war ärgerlich, aber nicht überraschend. Denn seit 2014, als wir eine wirkliche Mannschaft hatten, ist vieles passiert. Es gab personelle Veränderungen. Einen Philipp Lahm kann man nicht einfach so ersetzen. Auch Mertesacker, Podolski und Schweinsteiger sind Persönlichkeiten, welche die Mannschaft über viele Jahre prägten. Die jüngeren Spielen müssen nun erst beweisen, was sie in großen Turnieren leisten können.
Interviewer: Wie lässt sich die Anfälligkeit der Abwehr erklären?
Kohler: Ich würde lieber von Defensive sprechen, denn abwehren ist nicht die einzige Aufgabe. Zudem ist es kein neues Phänomen, sondern hat sich schon vor einigen Jahren eingeschlichen. Die Stabilität von 2014 ist seitdem nicht wieder eingekehrt. In Brasilien gab es kaum Gegentore, nur wenige Chancen für die Gegner. Danach wurden wir defensiv kaum geprüft: Weder in der Qualifikation noch in Freundschaftsspielen.
Interviewer: Dabei spielen mit Hummels und Boateng zwei klasse Innenverteidiger bei uns. Sind sie noch nicht in perfekter Form?
Kohler: Da ist Luft nach oben. Doch seit 2014 ist das gesamte Defensivverhalten schwächer geworden. Die Bereitschaft, Räume und Schnittstellen zu schließen ist nicht mehr so hoch. Diese Themen sind etwas aus dem Fokus geraten. Zudem haben auch Boateng und Hummels Probleme: Ihnen fehlt der Spielrhythmus durch Verletzungen.
Interviewer: Wie steht es um die Unruhe um Özil und Gündogan?
Kohler: Vor einer Meisterschaft gibt es immer viele Foto- und PR-Termine. Das ist okay, aber ich finde, als Fußballer sollte man sich auf das Wesentliche konzentrieren. Die Leistung sollte nicht darunter leiden.
Interviewer: Helfen da Aussprachen im Kader?
Kohler: Ich selbst erlebte es oft so: Am Ende sind es Ergebnisse, die überzeugen, nicht Worte. Und die kommen erst, wenn jeder seine Aufgaben pflichtbewusst erfüllt. Es gibt Drecksarbeit zu erfüllen, wenn man erfolgreich sein will. Vielleicht wäre es sinnvoll, das Spiel fünf Meter weiter hinten anzusiedeln, um vorne größere Räume zu bekommen.
Interviewer: Würden Sie etwas an der Aufstellung ändern?
Kohler: Ich würde schauen, dass die Jungs spielen, die am beste sind. Ganz egal, ob sie WM-Erfahrung haben oder nicht. Jeder Spieler muss bereit sein und brennen.
Interviewer: Sie waren 1990 Weltmeister. Vier Jahre danach hat sich die deutsche Mannschaft sehr schwergetan. Warum?
Kohler: Als Titelverteidiger wird man gejagt. Zudem hatten wir 1994 viele hausgemachte und selbst verschuldete Probleme. Das bleibt in der Mannschaft hängen und spiel unterbewusst eine Rolle.
Interviewer: … Diskussionen, ob die Spielerfrauen mit ins Hotel dürfen, der Mittelfinger von Stefan Effenberg…
Kohler: … oder Stefan Raabs Spottsong über Berti Vogts. Alle Kleinigkeiten, die einen im Turnier beschäftigen.
Interviewer: Glauben Sie an den Titel?
Kohler: Wenn wir einen kühlen Kopf bewahren, werden wir Meister. Dazu stehe ich immer noch.